Gestern entdeckt, heute kenne ich
Neutral Milk Hotel besser als meine Westentasche. Ist das I-Net nicht eine wunderbare Erfindung?
Keine 24 Stunden nach diesem einschneidenden Hörerlebnis frage ich mich nur: Wie konnte ich bisher ohne Jeff Mangum und seine drei kongenialen Begleiter leben? Eigentlich undenkbar ...
Die Geschichte der Band ist so faszinierend wie ihre Musik. Nach einem ersten, recht belanglosem Album, veröffentlichten sie 1998 auf dem amerikanischen Indie-Label Merge Records ihr zweites Werk:
"In the Aeroplane over the Sea". Die Resonnanz war überwältigend. Kritiker sprachen unisono von einem Meisterwerk, einem Meilenstein in der Geschichte des Indie-Folk und auch das fachkundige Publikum sorgte für einen niemals erwarteten Erfolg. Die Platte verkaufte sich so gut, dass bis zur Wieder-Veröffentlichung im Jahre 2005 des öfteren Lieferengpässe auftraten.
Auch die folgende Tournee wurde zum Publikumsmagneten. Doch wer nun erwartet hätte, dass Mangum & Co danach voll durchstarten, sah sich gründlich getäuscht. Der Hype um seine Person verstörte den sensiblen Sprößling einer zutiefst christlich geprägten Familie so stark, dass er sich nach der Tournee fast komplett aus der Öffentlichkeit zurückzog. In einem seiner immer seltener werdenden Interviews machte er 2002 deutlich, dass er nach "Aeroplanes" seine Naivität und Arglosigkeit verloren habe. Er könne mit seiner bewussteren, aber sehr viel negativeren Weltanschauung nicht mehr unbefangen einem erwartungsfrohen Publikum seine Musik präsentieren.
Zwar wurden Neutral Milk Hotel nie offiziell aufgelöst, aber Aeroplanes blieb bis heute ihre letzte Veröffentlichung. Ihrem Ruf jedoch tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil, ihr abruptes Ende ließ sie im Laufe der Jahre mehr denn je zu Legenden mutieren. Als sie sich 2013 noch einmal kurzfristig für eine Tournee zusammenfanden, glichen ihre Konzerte einer weltumspannenden Prozession: Ihre Jünger pilgerten in Scharen zu den langersehnten Auftritten.
Doch was macht eigentlich den Reiz dieses außergewöhnlichen Albums aus? Sicher nicht seine Eingängigkeit. In dieser Hinsicht bleibt das grandiose Eröffnungsstück
The King of Carrot Flowers Part One einzigartig. Den Rest der Platte werden Hörer hochfrequenter Radiosender, deren Musik Tom Waits einmal als "some kind of Shopping-Music, not too often interrupted" bezeichete, wohl eher als sperrig empfinden.
Schon eher ist es die ungewöhnliche Instrumentierung. E-Gitarre (spätestens seit Dylan) und Akkordeon sind im Folk-Genre bereits etabliert, aber Bläser und erst recht einen Dudelsack kennt man eher aus anderen Genres. Der Dudelsack in
"Untitled" wird allerdings - musikalisch betrachtet - kunstvoll in seine Einzelteile zerlegt.
https://www.youtube.com/watch?v=FwI_4qHpt1o Dazu kommt die ungewöhnliche Stimme von Mangun. Die ist sicher nicht im klassischen Sinne schön, oft sogar nervig, aber stets überaus präsent und intensiv. Besonders deutlich wird das bei
Oh Comely bei dem sich der Sänger wie in mehreren Stücken des Albums mit dem Schicksal Anne Franks befasst. Bei Oh Comely wünscht er sich, Anne mittels einer Zeitmaschine retten zu können.
https://www.youtube.com/watch?v=Z-fjyEIgWikAuch bei
Holland, 1945 beschäftigt er sich mit dem Leiden des Mädchens, dass sich jahrelang in Amsterdam vor den Nazis versteckt hielt, bevor es am Ende doch ihren grausamen Häschern zum Opfer fiel. Die Musik mit ihrer verzerrten Gitarre ist dabei beinahe so verstörend wie die Beschäftigung mit dem Schicksal der Zwangsexilantin.
https://www.youtube.com/watch?v=XLaFLztnL84Auf dem Album vor Holland, 1945 platziert ist das großartige
The Fool. Dabei könnte es sehr gut auch umgekehrt sein. Denn The Fool klingt wie die Musik eines Beerdigungszuges in New Orleans, der eigentlichen kreativen Musikmetropole der USA. Und es ist ein weiterer Beleg dafür, wie eng und unpassend Genre-Zuordnungen oft sind. Unter Folk stellen sich die meisten sicher etwas anderes vor.
https://www.youtube.com/watch?v=TUdiq0ZHsjw Hört man dagegen den Titelsong, stellt sich die Assoziation Folk schon eher ein. Aber auch hier wird die sanfte und harmonische Akustikgitarre schon bald von Dissonanzen begleitet. Bei Neutral Milk Hotel ist halt nichts wie es scheint. Vielleicht ist gerade das ihre größte Qualität.
https://www.youtube.com/watch?v=hD6_QXwKesU