Vor ein paar Tagen mochte ich um die fünfte Morgenstunde meinen Ohren kaum trauen. Mitten in den Häuserschluchten vernahm ich ein lautes und deutliches Kikerikie. Kein Zweifel möglich, ein Hahn übernahm von den Kirchenglocken die Aufgabe, die gläubigen und ungläubigen Städter zu wecken. Mein Staunen ward umso größer, da sich kein Kinderbauernhof, ja nicht mal ein Garten auch nur ansatzweise in hörbarer Entfernung befindet. Nur die bekannten Berliner Mietshäuser säumen unsere Straßenflucht und Passanten waren - um die Uhrzeit verständlich - auch nicht zugegen. Meine neugierigen Blicke vom Balkon brachten ebenfalls nichts erhellendes hervor, doch da war er schon wieder, der unverwechselbare und unüberhörbare Hahnenschrei. Das stolze Federtier nahm seine Aufgabe offenkundig mit dem gebotenen Ernst und Eifer wahr.
Und das sollte sich die kommenden Tage nicht ändern. Moni, meine Schlächterin, klagte auch schon über die für ihr Dafürhalten doch arg frühe Weckprozedur und wir spekulierten gemeinsam, ob etwa einer der gegenüber wohnenden Nachbarn in Unkenntnis geschlechtsspezifischer Unterschiede die Idee hatte, eine Frühstückseiproduktion auf dem Balkon zu installieren. Man weiß ja nie, wie gut sich so eine Großstadtpflanze mit Landtieren auskennt. Den Hahn jedoch brachten unsere Grübeleien keinesfalls vom Kurs ab, er krähte munter weiter.
Als wir gestern abend die wiedergewonnenen Freiheiten ausnutzend vom Restaurantbesuch nach Hause kamen, stand vor dem Haus, dem wir die Hahnenschreie zurdneten, ein blau blinkender Notarztwagen. Soweit nichts ungewöhnliches, dachten wir uns. Häusliche Unfälle oder Schwächeanfälle bei der Sommerhitze sind schließlich keine Seltenheit. Doch am nächsten Morgen war Ruhe. Kein Hahn weit und breit.
Was mag da wohl passiert sein? Hat da womöglich ein um den Schönheitsschlaf gebrachter Nachbar versucht, dem Ruhestörer den Hals umzudrehen, was den besorgten Besitzer zum alarmieren der Ambulanz animierte? Oder ist gar der Tierfreund selbst Opfer eines Anschlags geworden, was die den Fall untersuchenden Freunde und Helfer dazu veranlasste, das allein gelassene Federvieh in Schutzhaft zu nehmen? Ein rätselhafterVorfall. Ich werde jedenfalls - ganz gegen meine Gewohnheit - die nächste Folge von "Aktenzeichen XY ... ungelöst" genauestens verfolgen.