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Von einem, der auszog und das fürchten lernte

BeitragVerfasst: 2. Jul 2020 17:43
von grunzquiek
Hallo Ihr da! :)

Vor ein paar Tagen ist mir ein Büchlein in die Hände gefallen, das ich zuletzt vor ein paar Jahrzehnten gelesen hatte: "Von einem, der auszog und das fürchten lernte" von Günter Wallraff. Ich bin damit noch nicht ganz fertig, aber ich schreibe trotzdem schonmal darüber. Ich schreibe das nicht in dem Thread "Bücher", weil ich dabei auch noch etwas persönliche Nostalgie einstreue (ist mir gerade ein dringendes Bedürfnis :biggthumpup: ), und weil der Text für ein einziges dünnes Büchlein doch etwas lang ist, aber ich glaube, dass dieses Frühwerk (nicht das Datum des Erscheinens, sondern die Zeit der Ereignisse) des Herrn Wallraff eine etwas ausführlichere Beschreibung wert ist:

Das Buch ist eher für die alten und uralten Herren aus der BRD geeignet, es handelt von seiner Zeit als Kriegsdienstverweigerer (früher auch "Drückeberger" genannt), der noch die Grundausbildung bei der Bundeswehr mitmachen musste, und von seiner Arbeit als ungelernter Arbeiter in Industriebetrieben.

Seine angeborene Renitenz, die er erst später zum erfolgreichen Geschäftsmodell gemacht hat, war da noch ganz unverfälscht. Er ist nicht in die beschriebenen Situationen gekommen, weil er damit einen großen literarisch-finanziellen Erfolg erzielen wollte, sondern meistens, weil er da rein musste, weil er entweder mit Strafandrohung dazu gezwungen wurde (Bundeswehr), oder weil er schlicht Geld verdienen musste (die ersten Industrieberichte), um sich und den bedürftigen Teil seiner Verwandschaft zu ernähren. Der Wunsch nach Veröffentlichung war da zwar schon dabei, aber bei einem von seiner Mission überzeugten Schreiberling gehört das wohl immer dazu.

Warum für die alten und uralten Herren?

- Kriegs- bzw. Wehrdienst und schweißtreibende Dreckarbeiten in der Industrie waren in den 60er-Jahren Männerdomänen. Seine Beschreibung in Tagebuchform von seiner Bundeswehr-Grundausbildung belegt sämtliche Vorurteile, die ich dann viel später hatte. Was aus der Bundeswehr zwischenzeitlich geworden ist, ist ja hinlänglich bekannt, aber noch zu meiner Kriegsdienstverweigererzeit in den 80ern hat man Vergleichbares von Nicht-Drückebergern gehört. Man merke: Auch Vorurteile können die Realität beschreiben! :schlaumeier:

- Die grauslichen Arbeitsbedingungen in der Industrie, die er speziell bei seinem Job in einem Stahlwerk von Thyssen beschreibt, haben sich deutlich verbessert, weil es bis vor ungefähr 20 Jahren starke und engagierte Gewerkschaften gab. Erst seit es da überwiegend sauber, human und ordentlich bezahlt zugeht, interessieren sich zwecks Gleichberechtigung auch Frauen für solche Jobs.

Wer sich von den Jüngeren für solche ollen Kamellen interessiert, oder wer in der Ostzone, der sogenannten "deutschen", sogenannten "demokratischen", sogenannten "Republik" :clowm: aufgewachsen ist, kann das natürlich auch lesen, aber es handelt von Zuständen in der Bundesrepublik Deutschland, die für unter 50-Jährige kaum noch verständlich sind.

Besonders gut gefallen hat mir aus ganz persönlichen Gründen die Schilderung seiner Zeit als Kriegsdienstverweigerer:

Der arme Kerl musste noch die Grundausbildung bei der Bundeswehr mitmachen (mit einem Stock als Gewehrersatz), weil sein Antrag verzögert bearbeitet wurde, was mir glücklicherweise erspart blieb. Vor der Prüfungskommission war er dann einer Bande von heißen und kalten Kriegern ausgesetzt, die ihn selbstverständlich schuldig, also dienstpflichtig gesprochen hat. Ungefähr 20 Jahre später war es bei mir ganz ähnlich, sogar die beiden schläfrigen Herren an den Tischenden, die auf ein Stichwort hin munter wurden, waren bei mir wieder dabei! Wir wurden dann beide vom Bundeswehrpsychiater bzw. -psychologen als "dauerhaft nicht verwendungsfähig" eingestuft. :irre:

Ach, waren das noch Zeiten! Auf der einen Seite die kalten Krieger, die ihre Jugend noch in der Nazizeit verbracht hatten, auf der anderen Seite die renitenten Friedensbewegten. Gegenseitige Toleranz oder gar Verständnis für die Einstellung der Gegenseite gab es damals nicht. Wer auf der anderen Seite war, der war entweder ein feiger Drückeberger und Spinner oder ein Nazi. Da wusste man noch, auf welche Seite man gehört und wer der Feind war. Das galt natürlich nicht für alle, aber für diejenigen, die auf der einen oder anderen Seite engagiert waren. Wer heutzutage vor einer "Spaltung der Gesellschaft" wegen irgendwelcher Kleinigkeiten warnt, der hat die Zeit entweder nicht erlebt oder hofft darauf, dass alle anderen die Zeit nicht erlebt oder vergessen haben.

Heute sehe ich manches etwas anders, da haben sich wohl die Erkenntnis, dass nicht alle Menschen von Natur aus friedliebend sind, und die Erfahrung, dass gerade die Nicht-Friedliebenden aufgrund ihres rücksichtslosen Durchsetzungsvermögens in Entscheiderpositionen gelangen, durchgesetzt. :(

Nachtrag zum letzten Satz: Mittlerweile halte ich eine Landesverteidigung als Demonstration der Wehrhaftigkeit für sinnvoll. Ich habe aber nichts dagegen, wenn jemand anderer Meinung ist und zweifele dabei auch nicht an ehrenwerten Motiven.

Tschüß!
grunzquiek der Drückeberger